Egon vom Kiez – St. Pauli Deine Gegensätze

*Heute fasse ich mich ungewohnt lang. Ich freue mich aber, wenn Du Egons Geschichte dennoch bis zum Ende liest.*

Samstagmorgen. Während ich mich unter der Woche hektisch mit dem Auto zwischen Arbeit, Sport, Uni und zuhause hin und her bewege, beschließe ich heute, mich aufs Fahrrad zu bemühen. Ich habe Zeit. Die Sonne scheint und die Luft riecht zum ersten Mal in diesem Jahr nach Frühling, während ich meinen vanillegelben Drahtesel aus dem Winterschlaf wecke und ihn aus dem Keller an die frische Luft hieve. Nur eine zarte Briese weht mir entgegen (normalerweise bleibt in Hamburg keine Frisur mit Pony in Form!), als ich in die Pedale trete und mich auf den Weg zum Hafen mache. Ja, der Winter scheint abzuziehen!

Ich treffe eine Freundin zum Frühstücken. (Als ich vor 9 Jahren aus der Provinz nach Hamburg zog wusste ich nicht einmal, dass sich Menschen außerhalb ihrer vier Wände in Cafés zum Frühstück treffen.) Wir bestellen Cappuccino und Säfte, Obst, Müsli und Joghurt, Rührei (von hoffentlich glücklichen Hühnern) und Toast mit Granberries und zerfließendem Ziegenkäse. Während wir unseren Blick über Schiffe, Kräne und Elbphilharmonie schweifen lassen, tauschen wir unsere Gedanken über zurückliegende Auslandsaufenthalte, bevorstehende Urlaube und allerlei Mädchengedöns aus. Zurück allein auf dem Fahrrad beschließe ich: Ich möchte noch nicht nach Haus!


Ein paar Meter weiter mache ich halt, setze mich auf ein Geländer und lehne mein Hollandrad daneben. Noch ein paar Minuten den Blick auf die Elbe genießen, Menschen beobachten, Gedanken nachhängen und Frühlingsluft schnuppern. Die Hauswand hinter mir gehört dem Pfarrhaus in St. Pauli und ist über und über mit Graffiti besprüht. Irgendwie widersprüchlich, denke ich. Die Pfarrhäuser, die ich aus meiner Kindheit kenne, sind idyllisch gelegen und von Rosen und Efeu umrankt. 

Ein paar Treppenstufen weiter unten fällt mir ein dunkelhäutiger Mann auf. Die Kapuze am helllichten Tag tief ins Gesicht gezogen, schaut er all jenen Passanten tief in die Augen, die offenbar potentielle Abnehmer sein könnten, für die kleinen Tütchen, von denen er wenige Minuten zuvor ,eines an den jungen Mann mit Basecap und Jogginghose verkauft hat.  Dicht neben ihm spielen 15- oder 16-jährige Jungen aller Nationen Basketball. Im Hintergrund höre ich das Rollen von Skateboards. Touristen halten an um Fotos vom Elbpanorama zu schießen, so richtig wohl scheinen sie sich in dieser Ecke St. Paulis jedoch nicht zu fühlen. Sie verweilen nicht lang, abseits der ausgetretenen Pfade auf Reeperbahn und Landungsbrücken.

 

 

In der Ferne sehe ich einen Hund in meine Richtung steuern. Ein hellbrauner Mischling mit treuem Blick. Er trägt einen Maulkorb obwohl er offensichtlich nicht zur klassischen Gattung „Kampfhund“ gehört. Offenbar scheint ihm in der Vergangenheit mal ein Missgeschick passiert zu sein. Ich beachte ihn nicht weiter und lasse meinen Blick schweifen – bis Bello plötzlich direkt vor mir steht.

Dieses Mal hat er sein Herrchen mitgebracht. „Ist das Dein Rad?„, fragt Egon und deutet auf meinen doch sehr feminin wirkenden, hellgelben Drahtesel. Ich lächle ihn an und stimme zu. „Schönes Rad, mein Freund Otto hat auch so ein Hollandrad. Ein schwarzes. Das hat er selbst angemalt. Mit Farbe und Pinsel. Früher war es mal rot, musste aber getarnt werden.„, erzählt Egon. Er hält sich die Hand schützend halb vor den Mund, wird etwas leiser und fügt hinzu „Ist geklaut!„.

Ich muss schmunzeln. Egon ist geschätzte 1,65m klein und trägt sein graues, strähniges Haar etwas zu lang. Seine Kleidung ist alt und abgetragen, dennoch ist Egon für die Verhältnisse auf St. Paulis Nebenstraßen eine vergleichsweise gepflegte Erscheinung. Er trägt eine Jeansjacke, einen stoppeligen Fünf-Tage-Bart, eine alte Panzerkette um den Hals und das passende silberne Armband am tattoowierten Handgelenk. Ich schätze Egon auf etwa 70 Jahre. Egon riecht nicht nach Alkohol und ist in keinster Weise unangenehm aufdringlich. Doch Egons leicht zitternder Körper und Egons Seele haben vieles zu erzählen, das spürt man.

Ich hätte auch gern so ein Rad, vielleicht ein schwarzes. Aber wie würde das aussehen, ich bin ja so klein.“ Egon tut so, als säße er auf einem viel zu großen Rad, bei dem er grad so über den Lenker blicken könnte. Ich lache. „Und ich bin jetzt 93, da fahre ich lieber weiter mit meinem Klapprad. So ein kleines Mini-Rad, weißt Du? Das steht im Keller, hier um die Ecke.“ Dass Egon tatsächlich 93 Jahre alt sein soll, erschließt sich mir nicht, aber ich höre ihm einfach weiter zu, ohne komische Fragen zu stellen. Erst als er mir vom Streit mit seiner Schwester um das Erbe seiner noch lebenden Mutter erzählt, die momentan 101 Jahre alt ist, bin ich mir sicher, dass mit Egon etwas nicht zu stimmen scheint. „Die lebt in einem Haus in Westphalen. Aber wer will da schon hin wenn man in Hamburg wohnen kann. Ich habe eine riesige Wohnung hier auf St. Pauli.“ – die vermutlich nach Egons Tod kernsaniert und für ein vielfaches der jetzigen Miete an eine Mutter-Vater-Kind-Konstellation weitervermietet werden wird, denke ich mir. So verändern sich Stadtteile und ihr Klientel.

 

 

Jetzt habe ich dich belästigt, das wollte ich gar nicht. Aber ein schönes Rad hast Du, so eins hätte ich auch gern, vielleicht in schwarz.„, sagt Egon ein letztes Mal, bevor wir uns einen schönen Tag wünschen und er mit seinem treuen Freund weiter zieht.

Ein wenig fühle ich mich schuldig, denn ich möchte Egon nicht das Gefühl gegeben haben, dass er mich belästigt haben könnte. Wenn er wüsste, wie erheiternd ich unser Gespräch fand. Egons Erscheinung hatte so etwas Leichtes, Kindliches, Unbeschwertes. Trotz der unverkennbaren Last auf seinen Schultern. Welch schöne Begegnung, danke Egon!

Hamburg, Deine Gegensätze sind verrückt!

Alles Liebe,
Anni

 

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